"Erinnerung ist immer flüchtig"

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Antje Ravic Strubel anlässlich des Marburger Literaturpreis 2005

In ihrem Roman "Sturz der Tage in die Nacht" beschäftigt sich Antje Rávic Strubel mit verschiedenen Formen der Erinnerung an die DDR. Im Interview spricht sie darüber, warum das Buch auf einer schwedischen Insel spielt und was die Stasi mit der Geschichte zu tun hat.

In Ihrem neuen Roman lernt der junge Erik auf einer Vogelschutzinsel in der schwedischen Ostsee die Ornithologin Inez kennen, die ihn vom ersten Moment an fasziniert. Was hat ihn auf diese entlegene Insel geführt?

Für mich ist Erik ein Suchender, ein Getriebener, der nicht recht weiß, wo er mit sich hin soll. Er ist unentschlossen, will Wirtschaft und Politik studieren, „weil man da Anzüge trägt“, also nicht wirklich aus inhaltlichen Gründen. Er fährt dann vor Studienbeginn im Norden herum, weil er da seine Ruhe hat, wie er sagt.

Und Inez ist auch eine Getriebene, ist sie auf diese Insel geflohen? Ist sie, wie später eine andere Figur über sie sagen wird, eine schwankende Persönlichkeit?

Reiner Feldberg, der dies sagt, ist ehemaliger Stasi-Mitarbeiter; der Begriff „schwankende Persönlichkeit“ ist natürlich Stasi-Terminologie. Auch der Begriff „Angriffsfront Intimleben“, den er in Bezug auf Erik und Inez verwendet, ist dieser Terminologie entnommen. Feldberg möchte Inez so sehen, weil es sie zwielichtig macht, aber für mich ist sie eine Figur, die erst einmal nichts mehr zu tun haben will mit dieser Vergangenheit im Osten. Sie hat dieses Kapitel für sich abgeschlossen und ist auch nicht umsonst relativ schnell nach der Wende weggegangen. Sie hat versucht, Abstand zu gewinnen und sich noch einmal neu zu entwerfen.

Wie kamen sie denn auf diese geradezu tollkühne Idee, Ornithologie, eine schwedische Insel und eine Stasi-Geschichte zusammenzuknüpfen?

Die Anfangsidee, dass es auf dieser Vogelinsel spielen muss, hat sich aus der Mutter-Sohn-Liebesgeschichte entwickelt, die ich erzählen wollte. Die dort lebenden Lummen, die ihre Jungen von der Felsenklippe stoßen, waren für mich eine Metapher für das Aus-dem-Nest-Fallen und für etwas Neues, in das man dadurch hineingestoßen wird. Ein Bild für dramatisches Stürzen, aber auch ein Bild für den Neuanfang. Die Stasi-Geschichte, die sich dann hineingewoben hat, hat etwas mit dem Konzept und der Grundidee meines Romans zu tun. Sie steht hier für alles Bösartige und für die niederen Triebe des Menschlichen, die man in einer Gesellschaft mittels Gesetzgebung versucht, zu mäßigen. Dieses „Böse“ bricht zunächst in die idyllische Liebesgeschichte ein, bevor die beiden Liebenden es durch ihre Entscheidung für eine anarchistische Form von Liebe - so könnte man sagen - vollkommen aushebeln.

Das Motiv der verschiedenen Formen der Erinnerung an die Zeit der DDR zieht sich durch den Roman. Inez sagt an einer Stelle: „Die Erinnerung kränkt den Menschen, der in diesem Land gelebt hat, es kränkt ihn, dass das sein Leben gewesen sein soll.“ An anderer Stelle heißt es: „… ein Land, das nur noch in Metaphern des Zugrundegehens und Ausgelöschtwerdens existiert …“ Sie waren beim Fall der Mauer noch sehr jung. Woher kommt diese starke Präsenz des Themas in Ihrem Werk?

Es hatte auch für einen sehr jungen Menschen eine große Bedeutung, man war mit fünfzehn Jahren doch schon in einer Gesellschaft integriert, und plötzlich verschwand alles. Selbst die Sprache wurde anders, die Bedeutung von Worten, der Umgang zwischen Menschen, all dies änderte sich. Ich habe eigentlich in allen meinen Büchern darüber nachgedacht, wie man darüber noch reden kann, ohne in eine Starrheit zu verfallen. Inez‘ Problem ist, dass sie sich gegen immer allgemeiner werdende Vorstellungen wehren muss, gegen dieses Starre, dieses Zusammenschnurren auf bestimmte Bilder, die dann die Realität erklären sollen.

Mir schien es bei der Lektüre nicht immer einfach, klar zu sagen: Das sind die Bösen und das sind die Guten, weil selbst die Erinnerung des intriganten Politikers, Felix Ton, aus seiner Sicht andere Facetten hat und sich für ihn anders darstellt. Ist es auch für Sie und Ihre Figuren so, dass Erinnerung immer nur eine Version des Vergangenen ist?

Es geht beim Schreiben immer auch darum, wie es hätte gewesen sein können oder wie es sein könnte und weniger darum, zu sagen, wie es wirklich war. Es geht einerseits um literarische Glaubwürdigkeit und andererseits um Spielmöglichkeiten, um Varianten, um Vorstellungsmöglichkeiten. Erinnerung ist immer völlig flüchtig. Schon wenn ich mich ein zweites Mal erinnere, erinnere ich mich an die Fiktion. Die Erinnerung verändert sich ständig, ist abhängig von dem Zustand, in dem ich mich befinde. Das macht aber das Schreiben gerade so spannend, weil man Möglichkeiten entwerfen kann. Und das machen im Grunde auch alle Figuren in diesem Roman.

Nun taucht in diesem Roman auch noch eine Inzestgeschichte auf, die die Figurenkonstellation noch einmal ordentlich durcheinander wirft. Wie kam es dazu? Und warum?

Mich interessieren immer die Grenzverläufe von Identitäten: Was macht mich aus? Wer bin ich? Wie werde ich wahrgenommen? Das sind die Grundfragen, die mich beim Schreiben beschäftigen. Im Roman davor, „Kältere Schichten der Luft“, ging es mir um Geschlecht und Alter, die uns definieren, da wollte ich diese Grenzziehungen, diese Kategorien verunsichern. Bei „Sturz der Tage in die Nacht“ kreise ich um die Definition von Familie: Was ist das Eigene, was ist das Fremde? Es ging mir um die Frage, wie kann man da die Grenze aufweichen, wie kann man dieses Tabu aussehen lassen, als wäre es gar nicht so wichtig? Mit Sprache kann ich mich in einem völlig offenen Terrain bewegen, den Festlegungen entwischen, schwebende Räume durchschreiten, alles ist möglich. Das ist für mich am Schreiben das Spannende.

Zur Autorin:

Antje Rávic Strubel, geboren 1974, lebt als freie Schriftstellerin in Potsdam. Nach einer Ausbildung als Buchhändlerin studierte sie in Potsdam und New York Literaturwissenschaft, Amerikanistik und Psychologie. In New York arbeitete sie auch als Beleuchterin an einem Off-Off-Theater, das zum Schauplatz für ihren ersten Roman geworden ist: „Offene Blende“, erschienen 2001. Es folgten der Episodenroman „Unter Schnee“, 2001, und „Fremd Gehen. Ein Nachtstück“, 2002. 2004 veröffentlichte sie den Roman „Tupolew 134“, in dem es um die Geschichte zweier DDR-BürgerInnen geht, die ein Flugzeug nach West-Berlin entführen. 2007 erschien „Kältere Schichten der Luft“, ein in einem schwedischen Jugendlager angesiedelter Roman. Ebenfalls 2007 erschien „Vom Dorf. Abenteuergeschichten zum Fest“ und 2008 die „Gebrauchsanweisung für Schweden“. Im Herbst 2011 veröffentlichte sie den Roman „Sturz der Tage in die Nacht“.

 

 

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